4 Punkte von lars tuncay:
Wir alle kennen das: Man will einfach nur weg. Raus aus dem Leben, das andere für einen vorbestimmt haben. Frei sein, endlich tun und lassen können, was man will.
Für Mittzwanziger Jorge (Quim Gutiérrez) rückt dieser Traum in unerreichbare Ferne. Sein Vater würde ihn gerne in seinen Fußstapfen als Hausmeister sehen. Doch Jorge steckt lieber die Mülltonnen an und rebelliert. Da geschieht die Katastrophe: Sein Vater erleidet einen Herzinfarkt, und Jorge sitzt fest. Denn sein Bruder Antonio (Antonio de la Torre) ist im Knast, und wer soll sich um den geistig verwirrten alten Mann kümmern?
Jorge resigniert, denn auch in der Liebe träumt er von mehr. Seine Freundin, die im gleichen Haus wohnt, wünscht sich insgeheim mehr als einen gestrandeten Müllschlepper. Einzig sein Kumpel Israel (Raúl Arévalo) lockert den Alltag auf, nutzt aber meist auch nur die attraktive Aussicht vom Dach in die Wohnung des gegenüber lebenden Masseurs, bei dem ein Handjob im Preis inbegriffen ist.
So driften die beiden durchs Leben, bis Antonio aus dem Gefängnis kommt und seinen kleinen Bruder um einen Gefallen bittet: Im Knast hat er die attraktive Paula (Marta Etura) kennen gelernt, die ein Kind von ihm will, um in den Mütterblock verlegt zu werden. Doch Antonio ist zeugungsunfähig und Jorge soll den Job übernehmen. So trifft sich der schüchterne Jorge mit der schönen Paula, und obwohl sein Bruder ihn davor warnt, ist es bald mehr als nur Sex. Israel muss derweil einen Schock verarbeiten, als er seinen Vater beim Masseur erwischt.
Regisseur Daniel Sánchez Arévalo kannte dieses Gefühl, seine Zeit zu verschwenden während das Leben anderswo passiert, denn er studierte fünf Jahre BWL, bevor er sich dem Film zuwandte. Mit dunkelblaufastschwarz legt er nun nach einigen Drehbüchern und zahlreichen Kurzfilmen sein Langfilmdebüt vor. Der 36jährige Spanier erzählt eine Geschichte, mit der sich jeder von uns identifizieren kann. Ein Leben lang rennen wir vertanen Chancen hinterher und meinen stets, unser Leben bzw. wir selbst könnten besser sein, anstatt im Hier und Jetzt zu leben. Auch Jorge muss aus der Lethargie seines Daseins erwachen, bevor er erkennt, dass es eigentlich gar nicht so verkehrt ist. Damit bringt Arévalo seine Tragikomödie auf eine allgemeingültige Pointe, ohne belehrend zu wirken.
„Dunkelblau, fast schwarz“ ist der Ton in den meisten Momenten der Geschichte. Dabei kommt die Dramaturgie nahezu ohne echte Höhepunkte aus und driftet eher dahin, ganz so wie sein Protagonist. Die poetischen Bilder wirken fast meditativ, ohne gekünstelt zu erscheinen. Diese Atmosphäre hält den Film in einem fortwährenden Zustand des Schwebens.
Auch die Besetzung weiß durch Zurückhaltung zu glänzen. Besonders Quim Gutiérrez überzeugt in seiner ersten Hauptrolle als netter Typ von nebenan, dessen Gefühle sich eher im Inneren abspielen. Raúl Arévalo sorgt als Israel für die heiteren Momente, ist aber vielleicht die tragischste Figur im Ensemble. Auch er schlingert orientierungslos durch sein Leben, unsicher gegenüber seiner eigenen Sexualität und gefrustet durch das schlechte Verhältnis zu seinem Vater. Dass er am Ende schließlich den Spieß umdrehen kann und aufrecht vor ihm steht, ist seine Chance. So wie jede der Figuren schließlich doch die Chance erhält, etwas zu ändern. Und das beruhigt uns dann doch irgendwie.
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